Die Leute nannten es nur
Russenlager
Eine Bendorferin erinnert sich
von Marga Fries †
Mitglied der GGH
Die Leute nannten es "Russenlager",
Ostarbeiter waren von 1942 bis 1945 in
einem Barackenlager in Bendorf interniert.
Nocht recht gut kann ich mich an das
Barackenlager der Ostarbeiter erinnern. Die
Leute nannten es "Russenlager", obwohl
dort auch Menschen aus anderen Oststaaten
untergebracht waren. Aber überwiegend
waren es eben junge und ältere Männer und
Frauen aus Rußland.
Orginalfoto von einer Lagerbewohnerin
Als dieses Lager
im Frühjahr 1942
erstellt wurde,
war ich ein
elfjähriges
Mädchen. Unser
Elternhaus stand unmittelbar neben diesem
Lager.
"Unser Vater war Anfang des Krieges
dienstverpflichtet und später Soldat. Meine
Mutter war mit uns vier Kindern und der
Großmutter allein im Haus. Angst heben wir
keine gekannt, aber es hat uns auch
niemand etwas Böses getan von diesen
"Lager-Nachbarn". Im Gegenteil, sie suchten
immer guten Kontakt und haben uns
manchmal sogar bei der Arbeit geholfen.
Auch geliehene Gegenstände haben sie
immer prompt zurückgebracht. Um zu
unserem Haus zu gelangen, mußten wir
immer an einem hohen Drahtzaun
entlanggehen, der das ganze Lager umgab.
Das Lager selbst hatte man in einem
ausgebeuteten Bimsgelände errichtet. Es lag
etwas außerhalb von Bendorf, zwischen
Arbeitsamt und Anfang des Weitersburger
Weges, Richtung Koblenz. Einen direkten
Zugang hatte es unmittelbar von der B 423,
die durch Bendorf nach Dierdorf-Hachenburg
weiter nach Minden führt. Oberhalb des
Lagers befanden sich der Neubergsweg, der
hier aber im Auslauf mehr ein Trampelpfad
durch Wiesengelände war, und ein
Weinberg.
Im Lagerbereich standen insgesamt sechs
Holzbaracken und ein Toiletten- und
Waschhaus. Die sechste war die
Küchenbaracke mit einem kleinen
Vorratskeller. Außerdem befanden sich darin
eine Kantine und zwei Räume für die
Wachmänner, die das Lager bewachten. Es
gab auch noch eine Krankenstube mit etwa
sechs bis acht Betten. Der zuständige Arzt
für dieses Ostarbeiterlager war Dr. med
Hugo Renzel aus Bendorf.
Ich will in diesem Erinnerungsbericht nichts
wiedergeben, was bereits viel ausführlicher
in dem Buch von Professorin Helena
Skrjabin, einer Russin aus Leningrad,
geschildert wurde. Im "Leningrader
Tagebuch" erzählt sie aus den Kriegsjahren
1941 bis 1945 ihren Leidensweg und den
ihrer Familie, mit der Flucht aus dem von
den Deutschen eingeschlossenen und
hungernden Leningrad. Über Gorki und den
Kaukasus kam sie hier nach Bendorf an den
Rhein, wo sie als Dolmetscherin für
Ostarbeiter von der Leitung der "Concordia-
Hütte", einem Rüstungsbetrieb während des
Krieges, eingesetzt wurde (1943-1945).
Nach Kriegsende blieb sie mit ihren beiden
Kindern noch fünf Jahre in Bendorf, denn sie
hatte damals Angst, nach Rußland
zurückzukehren. Sie wußte nicht, was sie
dort erwartete. Frau Skrjabin war danach
noch in verschiedenen Positionen bei der
französischen Besatzungsmacht tätig und
konnte dadurch auch den Deutschen helfen,
die vordem auch gut zu ihr und ihren
Kindern waren. 1950 wanderte sie nach
Amerika aus, erwarb dort ihren
Professorentitel und an einer Universität
einen Lehrstuhl für russische Literatur. Ihren
Urlaub verbringt sie meistens in
Deutschland. Sie hat noch viele Freunde und
Bekannte hier in der Bevölkerung. Mit ihrem
jüngsten Sohn Jurik habe ich öfter
Schulaufgaben gemacht. Wir Kinder nahmen
ihn auch mit zur Schule und brachten ihn
wieder ins Lager zurück. Die Mutter hatte
mit ihren Kindern eine Wohnung in der
"Menage" (=Werkskantine) bei der
Concordia-Hütte.
Doch ein weiteres schweres Schicksal hat
dann nach ein paar Jahren diese
leidgeprüfte Frau getroffen. Sie hatte ihrem
Sohn Jurik als Geschenk für sein
bestandenes Examen mit seiner Freundin
eine Reise nach Kreta gestiftet, wo sie
selbst zeitweilig dienstlich tätig war. Beide
junge Menschen kamen bei dem schweren
Erdbeben in Jugoslavien ums Leben. Sie
hatten dort bei ihrer Zwischenlandung nur
einen Tag in einem Hotel gewohnt. Ihren
toten Sohn ließ sie nach Deutschland
überführen. Sie selbst hat mir dieses, wohl
traurigste Kapitel ihres Lebens geschildert.
Wenn sie nach Bendorf kommt, besucht sie
mich jedesmal.
Originalfotos einer Lagerbewohnerin
Doch jetzt weiter
zu den
Begebenheiten in
und um das Lager
selbst. Eines Tages
wurden die
Wohnbaracken mit
Schwefel
ausgeräuchert. Neben dem Lager hatten wir
ein großes Erdbeerfeld. Es war dies eine
zusätzliche Einnahmequelle für unsere
Familie, mit der wir jedes Jahr rechnen
konnten. Wohl keiner der "Kammerjäger"
hatte sich darüber Gedanken gemacht, daß
die Schwefelschwaden unsere ganze
Erdbeer-Ernte vernichteten. Es entstand uns
großer Schaden. Wenn in dem "Russenlager"
irgend etwas gefeiert wurde, hörten wir bis
lange in die Nacht laute Musik und Gesänge:
vielfach wehmütige, oft aber auch feurige
mehrstimmige Weisen. Ebenfalls konnten wir
von unserem, etwas höher gelegenen
Gelände, tagsüber beobachten, was sich im
Lager abspielte. Für uns Kinder war eben
alles interessant, was neu oder fremdartig
war. Einem jungen Russen mit Namen
Wilhelm, der sehr schön malen konnte und
Farben sogar aus Blumen selbst machte,
schenkte ich meinen Deckfarbenkasten. Ich
hatte Weihnachten einen neuen bekommen.
Die Dankbarkeit dieses jungen Russen war
wirklich nicht geheuchelt. Er wollte mich
sogar nach Kriegsende heiraten. Ich war
damals vierzehn Jahre alt.
Noch in schlimmer Erinnerung sind mir die
vielen Fliegeralarme und die vielen Tag- und
Nachtstunden im "Bleiweiß-Bunker", einem
ehemaligen tunnelartigen Bergwerksstollen
der Firma Remy. Hier wurde in früheren
Jahren Eisenerz gefördert und verhüttet.
Immer öfter gab es Fliegeralarm, und die
Flugzeugpulks der alliierten Bomber wurden
immer größer und brachten mit ihrer
verderbenbringenden Last größtes Unglück
über die Bevölkerung. Oft waren 300 bis 400
dieser viermotorigen Maschinen in der Luft,
die über uns hinwegdonnerten. Voller Angst
und Schrecken liefen die Menschen bei
Alarm zum rettenden Bergwerksbunker.
Besonders nachts bei völliger Dunkelheit
sowie im Winter bei Glatteis und Schnee,
war der Weg dorthin voller Gefahren und
Tücken. Vor allem für ältere Leute, für
Frauen mit Kleinkindern. Einige alte oder
besonders ängstliche Menschen gingen erst
gar nicht mehr nach Hause und kampierten
ganz im Bunker.
Auch die Menschen aus dem Lager sollten
bei Alarm in den Stollen gehen, denn
schließlich arbeiteten sie ja in einem
Rüstungsbetrieb und "Räder müssen rollen
für den Sieg", so standen überall die Parolen
in großen Lettern im ganzen Reich. Aber
wenige dieser Ostarbeiter haben von dieser
"Schutzmaßnahme" Gebrauch gemacht, denn
einmal waren ständig welche von ihnen im
Schichtdienst bei der Arbeit und für die
übrigen war der vordere Teil des Bunkers als
Aufenthaltsmöglichkeit vorgesehen.
Kurz vor Kriegsende wurde das Lager nach
Thüringen evakuiert. Zurück blieben noch
etwa 10 bis 15 Leute. Aber die
Lagerinsassen waren sowieso ziemlich
leichtsinnig. Als die Amerikaner schon die
linke Rheinseite besetzt hatten und mit
Artillerie Ziele auf unserer Seite beschossen,
ließ sie das ziemlich kalt. Der Leichtsinn
oder die Unerfahrenheit dieser Menschen
war vielleicht auch mit der Grund dafür, daß
das Lager durch Beschuss mit Phosphor-
Granaten zerstört wurde. Jeden Tag kreiste
nämlich ein Aufklärungsflieger ständig über
unserer Gegend. Doch die Lagerbewohner
gingen fast alle ihrer gewohnten
Beschäftigung nach. Als dann die Baracken
lichterloh brannten, versuchten sie zu
retten, was noch zu retten war. Doch alles
brannte nieder bis auf die Küchenbaracke,
diese blieb stehen. Brennende
Teerpappstücke flogen bis auf unser
Hausdach und drohten auch dieses zu
vernichten. Mit einem langen
Wasserschlauch habe ich unser Dach
naßgehalten, bis die schlimme Gefahr
vorüber war.
Orginalfoto einer Lagerbewohnerin
Nachdem der Krieg
endgültig zu Ende-
und das Lager
verwaist war,
kamen aus einem
Nachbarort Leute
mit Fuhrwerken und
fingen an, die Küchenbaracke zu
demontieren. Sie bauten Fenster und Türen
aus, schraubten Bretter ab und schleppten
alles fort. Zum Schluß stand nur noch das
Balkengerippe frei da.
An einem schönen Sommertag hörten wir
einen gewaltigen Schlag, wie von einer
Detonation. Wir rannten sofort hin, sahen
aber zunächst nur eine gewaltige
Staubwolke. Erst als sich diese etwas
verzogen hatte, konnte man erkennen, daß
das ganze Balkengerüst seitwärts
eingestürzt war. Es gab eine große
Aufregung, denn kurz vorher spielten noch
etliche Kinder in dem Bereich. Auch meine
jüngere Schwester Sissi war dabei. Doch wie
ein Wunder, sie saß mitten in den Balken der
zusammengestürzten Baracke ohne eine
Schramme.
Ein weiteres Erlebnis hatten wir dann noch
durch das "Russenlager". Eines Tages war
ein Schaf unseres Nachbarn Weichselbaum
verschwunden. Auf einmal sahen wir bei
unserer Suche danach auf einer Wiese ein
seltsames komisches Tier. Bei näherem
Hinschauen stellten wir fest, daß es das
verschwundene Schaf unseres Nachbarn war.
Doch wie sah das arme Tier aus? Das Fell
hatte oben einen hellen Streifen, alles
andere war voll dunklem Morast. Es war in
die Toilettengrube des abgebrannten
Ostarbeiterlagers gefallen. Voller
Verwunderung fragten wir uns damals, wie
sich das Tier wohl aus dieser Grube befreit
hatte. Heute sieht man von diesem
ehemaligen Lager nichts mehr. Die Trasse
der Autobahn Frankfurt-Trier führt über
diese Gelände.
Auch mein Elternhaus wurde, im Zuge des
Autobahnbaues, abgerissen. Verloren ging
damit gleichzeitig ein schönes Stückchen
Natur und auch unser Kinderreich mit den
vielen Erinnerungen."
Zu der oben angeführten Elena Skrjabin;
Aus der Kurzbeschreibung zum Erscheinen
des Buches von Elena Skrjabin seien einige
Zitatae angeführt.
Eine Zeitzeugin erzählt: Elena Skrjabin
berichtet auch vom Lagerleben in Bendorf.
Ihre Vergangenheit wird lebendig, rückt
wieder nahe an die Gegenwart heran, wenn
Zeitzeugen von ihren Erlebnissen berichten.
Die Russin Elena Skrjabin ist eine solche
Zeugin. Trotz starker Belastung durch Kinder
und Verwandte, für die sie sorgte, fand sie
die Kraft, vier Kriegsjahre lang fast täglich
von den Geschehnissen um sie her zu
berichten. Hautnah wird der Leser mit den
teilweise lebensbedrohenden Problemen und
ihren Sorgen vom ersten Tag des
Kriegsausbruchs an konfrontiert. Von 18.
Dezember 1943 bis 25. März 1945 lebte sie
im Bendorfer Arbeitslager, wovon auch
Marga Fries berichtet.
"Wir steigen aus, bleiben auf dem Bahnsteig
stehen. Stille, Menschenleere und Finsternis
drohen von allen Seiten. Die Verdunkelung
ist hier so perfekt wie in allen Städten und
Ortschaften Deutschlands."
Mit diesen Sätzen beginnt das letzte Kapitel
ihres Buches, in dem sie ihren Alltag in
Bendorf beschreibt. Die Lagerinsassen
müssen täglich schwer arbeiten, bekommen
immer knapper werdende Rationen und
werden teilweise grob behandelt. Aber sie
erfährt auch Hilfe und Menschlichkeit. An
Weihnachten stehen plötzlich einige Leute
vor ihrer Tür.
"Jeder hielt ein Geschenk für uns in der
Hand: Christbaumschmuck, Spielzeug für
Jurik, von Herrn Würges aus Holz geschnitzt,
und ganze Schüsseln voll Weihnachtsgebäck.
Wir trauten unseren Augen nicht."
Ihr jüngerer Sohn Jurik, an den sich auch
Marga Fries erinnert, geht in eine Bendorfer
Schule, der ältere Sohn Dima muß hart
arbeiten - und sie springt als Dolmetscherin
ein. Immer wieder scheint sie an den Rand
ihrer Kräfte zu gelangen, immer wieder geht
es irgendwie weiter. Genau schreibt sie alles
auf, was für sie wichtig ist. Positives und
Negatives gleichermaßen. Ihre Söhne und
sie überleben die schweren Bombenangriffe
auf Bendorf im zweiten Halbjahr 1944. Ihr
Bericht endet mit der Besetzung Bendorfs
durch die Amerikaner am 25. März
1945. Elena Skrjabin, Leningrader Tagebuch,
Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren 1941-
1949, Biederstein Verlag, München 1972.
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